Die Sage vom Siechhaustal

 

  1. Riginlinde baut das Siechenhaus am Brückbach.

 

Auf dem Geißenberg oberhalb von Kapellen, nahe bei der Kripp,wohnte vor vielen Jahren die reiche und fromme Witwe Nothburgis. Sie besaß dort Haus und Hof, zahlreiche Felder und Wiesen, dazu herrliche Weinberge in Lahnstein. Ihr reicher Viehbestand war bekannt. Allein 500 Geißen (Ziegen) standen in ihrem Stall. Frau Nothburgis hatte ein einziges Kind, Reginlinde, die der Schultheiß von Boppard gerne seinem Sohne zur Frau gegeben hätte. Nun aber wurde in des Schultheißen Hause zugleich mit den Söhnen ein armer Vetter erzogen, dessen Eltern früh gestorben waren. Der Schultheiß hatte keine Ausgabe gescheut und dem verwaisten Junker eine standesgemäße Erziehung gegeben. So erwuchs mit den Jahren Junker Hermann zu einem vollkommenen Ritter. Er gefiel der Tochter der Nothburgis besser als der Stammherr. Seufzend ergab sich der Schultheiß darein, dass der arme Junker die reiche Erbin heiraten sollte. Er verlangte jedoch, dass Hermann vorher fünf Jahre am Hofe des Kaisers Dienst tue. Reginlinde wurde um ihre Zustimmung nicht gefragt.

Am Born, in der Nähe des Brückbaches, nahmen der Junker und das Mädchen Abschied. Reginlinde weinte bitterlich, als Hermann unter Schwüren das Versprechen wiederholte, sie nach Ablauf von fünf Jahren zm Altar zu führen. Der Born heißt seitdem Reginlindenborn. Man nennt ihn kurz den Lindenborn.

Fünf Jahre wartete Reginlinde. Oft kam Botschaft von dem Junker. Dann wurden die Nachrichten seltener und blieben schließlich aus. Das sechste und siebste Jahr vergingen, ohne dass der Junker sich blicken ließ. Der Schultheiß starb. Bald folgte Frau Nothburgis; Sie war geschwächt von den Sorgen, weil Reginlinde die Werbungen des Schultheißensohnes nicht beachtete. Dazu hatte sie ein Gerücht erschreckt, wonach Junker Hermann vom Kaiser wegen Majestätsbeleidigung zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt worden sei.

Da bot sich ein Hoffnungsstrahl. Der Kaiser kam nach Boppard, um in den ausgedehnten Forsten zu jagen. Er wollte auf dem Asurberge, dem Hasenberge, hetzen und dann nach Koblenz weiterreiten. Reginlinde beschloß, den Kaiser um ihren Bräutigam zu befragen. Am Jagdtage trieb sie ihre Geißenherde nach dem Reginlindenborn. Bald vernahm sie Hufschlag. Den steilen Hang zm Brückbach herab ritt der Kaiser mit seinem Gefolge. Sie drängte sich zu ihm und bat um Gnade für den Junker Hermann, den er gefangen halte.

Da wandte sich der Kaiser zu einem stattlichen Reiter:“Graf Belmont, Ihr seid hier zu Hause. Kennt Ihr Frau Nothburgis und ihre Tochter, und ist Euch dieser Junker Hermann bekannt?“ Der Graf erwiderte mit wegwerfender Gebärde:“Ich habe von dem alten Drachen niemals Gutes gehört, und ihre Tochter soll nicht recht gescheit sein.“ Unmutig spornte der Kaiser sein Pferd an, und rasch folgte ihm über Stock und Stein die ganze Jagdgesellschaft, Reginlinde war untröstlich. Sie hatte in dem Grafen Belmont ihren treulosen Bräutigam erkannt.

Die Sonne war längt untergegangen, als Reginlinde ihre Herde nach Hause trieb. Sie wollte der Welt entsagen und ihr Leben fortan der Nächstenliebe weihen. Am folgenden Tage teilte sie ihr Vermögen. Den rechtsrheinischen Besitz gab sie den Priestern des Heiligen Geistes, die damit im Lahnsteiner Berg ein Hospital bauten. Den Rest des reichen Gutes und sich selbst widmete Reginlinde dem Dienste der armseligsten unter den Armen, den Aussätzigen. Am Brückbach erbaute die neben dem Reginlindenborn für die Siechen ein Haus, daneben eine Kaprelle, die dem heiligen Alexius geweiht wurde. Jeder Kranke, gleich welchen Standes, wurde in dem Siechhause aufgenommen und verpflegt. Um den Hilfsbedürftigen auf der anderen Stromseite schnelle Hilfe bieten zu können, ließ Reginlinde vor dem Johannisstift und auf der Oberlahnsteiner Spitze je eine Glocke anbringen. Wurde eine geläutet, so fuhr vom Siechhause sofort ein Nachen (Boot) über, um den Notleidenden in Empfang zu nehmen.

 

  1. Ein Kranker bittet um Hilfe

Viele Jahre diente Reginlinde Gott. Sie speiste die Hungernden, tränkte die Dürstenden, beherbergte die Fremdlinge, bekleidete die Nackten und pflegte die Kranken. Immer noch war sie rüstig und schön. Da, an einem späten Abend um Maria Lichtmeß, läutete es drüben mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Der Ferge wurde gerufen. „Das werde ich wohl bleiben lassen, es ist stockdunkle Nacht und das Eis ist in Bewegung, lieber gebe ich den Dienst auf, als dass ich mein Leben wage!“ Das Läuten hörte jedoch nicht auf. „So will ich denn den Armen selbst herüberholen“, sprach Reginlinde. Ihren Worten folgte die Tat. Raschen Schrittes erreichte die Jungfrau das Ufer, machte den Nachen los und ergriff die Ruder. Da sprang auch der Ferge in den Nachen. Zwei Knechte gesellten sich dazu. Unter verzweifelten Anstrengungen der drei Männer, die Reginlinde vom Steuer aus anfeuerte, erreichte das Boot in ständiger Gefahr das andere Ufer.

Sie erblickten einen armseligen Bettler, der, das Glockenseil fest um seine Hände geschlungen, sich nur mühsam aufrecht halten konnte. Man schaffte ihn in Eile in den Nachen. Wieder wurde die Fahrt auf Leben und Tod angetreten. Das Eis war mittlerweile in stärkere Bewegung geraten. Durch das Anprallen der Eisschollen drohte das zerbrechliche Fahrzeug jeden Augenblick zu zerschellen. Plöltzlich stand es unbeweglich, ringsum von den sich häufenden Eismassen eingezwängt. Die Schiffer glaubten, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie ließen die Ruder sinken, um zu beten. Auch Reginlinde flehte in Angst und Not zu Gott. Da gewahrten sie plötzlich inmitten der Finsternis einen feurigen Streifen, der von ihnen ausgehend bis zum Ufer reichte „Das ist unsere Straße“, sagte Reginlinde zu den Schiffern, um an das jenseitige Ufer zu gelangen. Dort warf sich Reginlinde auf die Knie und dankte Gott für die wunderbare Rettung.

Den Reisenden brachte man zum Siechenhause. Reginlinde pflegte ihn mit aller Sorgfalt, zu welcher die christliche Liebe allein den Mut ujnd die Ausdauer gibt. Zudem merkte sie schon in den ersten Stunden, dass dieser grässlich Verelendete der stolze Graf von Belmont, ihr früherer Verlobter, war, der keine Spur mehr von Schönheit und Hoheit in sich trug. Er erzählte ihr seine traurige Geschichte.

 

Der Graf von Belmont

Junker Hermann hatte an des Kaisers Hof ein schnelles Glück gefunden.

Der Kaiser schenkte ihm die Grafschaft Belmont in Böhmen und versprach ihm die Erbtochter eines besiegten Königs zur Frau und dazu ihr ganzes Gut.

Es war kurz vor dem Hochzeitstage Hermanns, als Reginlinde den Kaiser am Brückbach ansprach. Der Graf fürchtete, von seiner Braut erkannt zu werden und versuchte daher, die Unterhaltung abzubrechen. Am kaiserlichen Hof stand ihm damals an Macht und Ansehen keiner gleich. Da starb der Kaiser.

Seine Söhne stritten um das Erbe. Der ältere Bruder unterhal. Seine Anhänger, darunter der Graf von Belmont, verloren ihren Besitz. Der Graf wurde zudem  verurteilt, zehn Jahre lang gegen die Türken zu kämpfen. Um seiner Familie das Erbgut zu retten, fügte er sich. Im Morgenlande kämpfte er tapfer, aber er kam in türkische Gefangenschaft. Weil er vom Aussatz befallen wurde, ließ man ihn frei. Er bettelte sich zu seiner Familie zurück. Doch am Hofe seiner Frau wurde dem Aussätzigen der Eintritt verweigert. Als er versuchte, sich durch Übersendung des Trauringes der Königstochter erkenntlich zu machen, hetzte man ihm die Hunde nach. Von allen verstoßen, erinnerte er sich der schmählich verlassenen Braut. Mühsam schleppte er sich zu seiner Heimat am Rhein, die ihm ein so unerwartetes Wiedersehen brachte.

Wir sorgsam er auch gepflegt wurde, seine Tage waren gezählt. Er starb mit sich und aller Welt versöhnt.Reginlinde versprach ihm in seinen letzten Augenblicken, sich dereinst in der St. – Alexius – Kapelle neben ihm beisetzen zu lassen. Aber das Versprechen hielt sie nicht. Auf ihren Wunsch trugen die Siechen ihren toten Leib auf den Kirchhof bei Kapellen. Dadurch machte sie sich eines Wortbruches schuldig. Zur Strafe findet ihre Seele erst die ewige Ruhe, wenn auf dem Reginlindenborn eine hohe Linde herausgewachsen ist.

Da der Lindenbaum aber stets wieder gefällt wurde, ehe er zur vollen Höhe wachsen konnte, sah man Reginlinde jahrhundertelang Nacht für Nacht unter einem Kreuz am Lindenborn. Das Kreuz ist heute verschwunden. Aber immer noch spiegelt sich in der Quelle das bleiche AntlitzReginlindes zum Entsetzen der Vorübergehenden.

 

 

 

ubko